Seit jeher brauchen die Artisti Vetrai die Hitze der Fornaci, der Brennöfen, um Glas nach ihrem Willen zu formen. Adriano Berengo hat der alten Kunst neue Gestalt gegeben.
Frischer Atem
Murano hatte seinen Ruf schon fast verspielt. Dann lud Adriano Berengo renommierte zeitgenössische Künstler ein, mit seinen Glasbläsern zusammen zu arbeiten. Und auf einmal zeigt sich die Tradition wieder quicklebendig
Text: Clara Silberstein
„Reclining Nocturne“ von Karen laMonte
Weiß der Kuckuck, wo man landen würde, wenn man dem Mann folgt, der an Muranos Vaporetto-Station steht und ankommende Passagiere mit „Fornace? Fornace?“-Rufen empfängt. Vermutlich in einer jener Glashütten, in denen außer einer Show für Touristen fast gar nichts mehr produziert wird. Die gibt es leider, und zusammen mit der grotesken Glasmenagerie, die in so manchem venezianischen Schaufenster steht, haben sie den Ruf der Glasbläserinsel so ramponiert, dass viele Murano-Glas nur noch mit billigem Plunder verbinden. Was für ein Irrtum! Denn neben scheußlichen Pferdeköpfen, kitschigen Vasen und tausendfach reproduzierten Lampen werden auf der zu Venedig gehörenden Insel Murano Dinge gefertigt, um die sich wohlhabende Sammler reißen und die in Kunstgalerien in New York, London oder Seoul zu Höchstpreisen verkauft werden. Man muss gar nicht lange danach suchen: Direkt an der Fondamenta dei Vetrai, die sich wie eine Miniaturversion der venezianischen Kanalufer von der Lagune ins Innere der Glasinsel zieht, stehen die Showrooms von Manufakturen wie Venini und Barovier & Toso – mit über 700 Jahren Tradition eine der weltweit ältesten und berühmtesten Glashütten – neben den Ateliers junger, innovativer Glasbläser wie Simone Cenedese. Mittendrin: das Studio von Adriano Berengo, der Murano fast im Alleingang wieder zu dem gemacht hat, was es schon früher war – ein Zentrum für Kunst. Allerdings arbeitet er mit zeitgenössischen Künstlern, und deren Vorstellungen unterscheiden sich vollkommen von jenen der Vergangenheit.
Jan Fabres „Shitting Doves of Peace“
„Wir können nicht immer die gleichen Dinge wiederholen, die schon vor Jahrhunderten gemacht wurden – so schön und wunderbar gearbeitet sie auch sein mögen“, sagt er. Das ist richtig. Denn auch wenn zuletzt jedes Jahr weit über sechs Millionen Besucher an die Fondamenta dei Vetrai kamen, litten die Glasbläser unter beträchtlichen Umsatzein-bußen. Wer kauft heute noch ein 60-teiliges Gläserset oder einen schweren Kronleuchter? Man brauchte dringend neue Einkommensquellen, und Adriano Berengo hatte eine Idee. „Die Inspiration kam von Peggy Guggenheim, die ich zum Glück kennenlernen durfte“, erzählt er, „sie hatte viele der großen Künstler ihrer Zeit – Max Ernst, Jean Cocteau, Oskar Kokoschka und andere – nach Murano gebracht, um mit Glas zu arbeiten. Die Künstler taten das umsonst, sie betrach-teten es wohl als eine Art Praktikum. Nur einer Visionärin wie Peggy konnte so etwas gelingen.“ Was er heute selber macht, ist ähnlich im Ansatz und mindestens genauso großartig. Allerdings arbeiten die Künstler nicht mehr umsonst. Der Deal lautet: Von jedem Objekt wer Hinterhöfe und -räume seines Studios stehen die fröhlichen bunten Figuren des Spaniers Juan Ripollés mit ihren viel zu großen Köpfen und die ebenfalls heiteren Heiligen Drei Könige des Wiener Secession-Künstlers Robert Zeppel-Sperl. Ai Weiwei ist mit seinen poppig-bunten Stinkefinkern vertreten, Tony Cragg mit abstrakten Glasskulpturen, Thomas Schütte mit maskenartigen Glasköpfen und der Brasilianer Vik Muniz mit wunderschönen und überaus realistischen Portraits, die aus Tausenden von Murrine gefertigt sind, jene filigranen, in Scheiben geschnittenen Glasröhren, die bei der Produktion von geblasenen Objekten oft übrig blieben. Über 150 Künstler haben in den letzten 30 Jahren bei und mit Adriano Berengo gearbeitet, drunter big names wie Joseph Kosuth, Raimund Kummer, Jaime Hayon, Zaha Hadid, Jan Fabre, Tracey Emin, Olafur Eliasson, Ugo Rondinone oder Kiki Smith. Namen, die nicht nur Insider aufhorchen lassen und die dem Berengo Studio eine weltweit verteilte und ausgesprochen kauffreudige Fangemeinde beschert haben.
Joana Vasconcelos’ „Rubra“
Früher musste ich jeden einzelnen Künstler dazu verführen, mal etwas mit Glas auszuprobieren“, erzählt er, „heute kommen sie von selber. Aber ich bin wählerisch wie ein Verleger. Ich entscheide, mit wem ich arbeiten möchte und mit wem nicht.“ Kaum einer der auserwählten Künstler hatte vorher je etwas mit Glas zu tun. Aber darauf kommt es nicht an, die Idee muss gefallen. Als der Spanier Javier Pérez mit seinem Plan für „Carroña“ kam, sagte Adriano Berengo sofort zu. Heute liegt der blutrote, in klassischem Stil gefertigte und in Scherben zerbrochene Lüster auf dem rauen Betonboden einer düsteren Kammer zwischen ausgestopften schwarzen Krähen, die sich über die Glasbrocken hermachen. „Beunruhigend, oder?“, fragt Adriano Berengo und erklärt: „Das Werk steht für die Zerstörung des Genius Loci von Murano. Ein in Stücke geschlagener Lüster und Krähen, die davon essen und in die Zukunft fliegen, beunruhigend, ja – aber auch seltsam faszinierend und unglaublich schön.
Ein vermeintlich zu Boden gestürzten Lüster ist der Kommentar des baskischen Bildhauers Javier Pérez zu den gängigen Arbeiten der Glasbläser auf Murano.
Adriano Berengo war die Glasbläserei nicht in die Wiege gelegt. Er kam als Sohn eines venezianischen Schreiners im Arbeiterstadtteil Castello zur Welt, studierte Literatur in Venedig und New York, arbeitete als Lehrer und als Funker zur See – „ich habe allen illegalen Taxifahrern in Venedig das Bootfahren beigebracht“, erzählt er nicht ohne Stolz. 1989 gründete er sein Glas-Studio auf Murano, angeregt von der Begegnung mit Peggy Guggenheim, inspiriert von seinen ersten, eher zufälligen Besuchen auf Murano. Am Anfang blieben seine Aktivitäten eher unbemerkt, heute schaut die Szene ganz genau auf das, was er tut. Acht Glasmeister arbeiten in seiner Glashütte, und auf den ersten Blick wirkt alles so wie überall: eine hohe, rußschwarze Halle, fauchende Öfen mit rot glühendem Schlund, Menschen, die mit langen Blasrohren hantieren. Doch was der junge Glasbläser Nicola Causin aus geschmolzenen Glasklumpen formt, ist alles andere als traditionell.
Marta Klonowskas
„The Fish“
Er arbeitet an einem Kronleuchter, dessen Dimensionen allein – neun Meter hoch, sechs Meter breit – alles bisher Dagewesene sprengen. Der Leuchter ist schwarz wie die Nacht und bei genauer Betrachtung ziemlich gruselig, denn seine Bestandteile sind haargenaue Nachbildungen menschlicher Herzen, Mägen, Därme, Nieren und Knochen. Die Vorlage stammt von Ai Weiwei. „Ich musste ihn sechs Jahre lang umgarnen, bevor er uns sein erstes Werk produzieren ließ“, erzählt Adriano Berengo, „heute sind wir beste Freunde.“ Dieser Riesenleuchter wird ein Unikat bleiben. Er ist für die Terme di Diocleziano bestimmt, dem größten Thermalkomplex des antiken Rom, heute ein Museum. Ein weiterer Ai-Weiwei-Lüster, nur minimal kleiner und milchig-weiß, hängt dagegen in Adriano Berengos privater Ausstellungshalle, einer alten, vor Jahrzehnten aufgegebenen Glashütte, die er im Originalzustand belassen und in sein
Der chinesische Starkünstler Ai Weiwei geht unter den Augen von Adriano Berengo mit seinem „Blossom chandelier“ einen neuen Weg
„Eventi collaterali“ der Biennale zählt und in diesem Jahr virusbedingt abgesagt werden musste. Der nächste Termin ist 2022, aber so lange mag ein nimmermüder Impresario und Entertainer wie Adriano Berengo nicht warten. Also eröffnete er Anfang September die Ausstellung „Unbreakable: Women in Glas“ mit Arbeiten von über 50 Künstlerinnen. Zu sehen sind dort einige der poetischsten, zartesten und schönsten Werke, die bei Berengo je geschaffen wurden. Zum Beispiel „Reclining Nocturne“ der amerika-nischen Künstlerin Karen LaMonte – ein verführerisch durchscheinendes, silbergrau schim-merndes, fein plissiertes Abendkleid ohne Inhalt oder fast ohne Inhalt. Die Frau, die es tragen könnte, ist abwesend: Kein Kopf ragt aus dem Halsausschnitt, auch Schultern, Brust und Arme fehlen. Dafür zeichnen sich eine Ferse, eine Wade und der Po unter dem Glaskleid ab, ganz leicht nur, aber unübersehbar. Von der in Berlin lebenden Venezianerin Monica Bonvicini sind die durchscheinenden Hände, die einen mehrfach gefalteten Gurt halten, ausgestellt und von der Österreicherin Renate Bertlmann ein rosafarbener Riesenschnuller mit dem irritierenden Namen „Tranquilizer“. Fantastisch sind auch die überdimensionalen und farbenprächtigen Fischskulpturen der Polin Marta Klonowska. „Wir liefern ihr nur die bunten Glasplatten“, sagt Adriano Berengo. Die Künstlerin schneidet daraus feine Streifen, die sie Stück für Stück in eine Metall-Silikon-Struktur verankert. All dies und weitere Exponate sind in der Fondazione Berengo Art Space auf Murano zu sehen – wenn diese nach dem Lockdown wieder öffnen darf. Wer nett fragt, bekommt dann auch die Glashütte sowie alles andere aus der großartigen Sammlung gezeigt – mit etwas Glück im Rahmen eines vom Inhaber höchstpersönlich geführten Rundgangs.