Seine unvergleichliche schönheit verdankt Santorin einer Naturkatastrophe. Wie schneebedeckt wirken die Klippen mit ihren weißen Häusern. Das Blau der Kuppeln wetteifert mit dem Azur des Mittelmeers

Göttliche Abgründe

Schneeweiße Häuser, schwarze Lava, rote Klippen – das lockt jedes Jahr Besuchermassen nach Santorin. Doch in diesen Monaten ist alles anders. Griechenlands schönste Insel präsentiert sich beinahe jungfräulich

Text: Reinhard Modritz
 

Verweile, Augenblick, du bist so schön!“ Keine Ahnung, ob Santorin jemals auf Goethes Bucket List stand, aber das hätte er bestimmt ausgeru-fen beim Anblick dieses Wunders der Schöpfung. Die atemberaubende Vulkaninsel ist ja bekanntlich das Erbe einer Art erdgeschichtlichen Urknalls. Ebenso wie die halbkreisförmige Caldera, der riesige Kraterkessel, den die Explosion vor etwa 3600 Jahren hinterlassen hat. Keine Frage, der Mond und der Mars weisen noch größere Krater auf. Nur dass darin kein azurblaues Wasser unter strahlender Sonne funkelt, keine schneeweißen Häuschen die steilen Felswände zieren, keine Windmühlen klappern, keine verzückten Reisenden „Oh“ und „Ah“ seufzen. Und keine Esel „I-ah“ brüllen. Viele Wege führen nach Santorin oder Santorini, wie die Venezianer die Insel tauften, nach der heiligen Irene. Die Griechen nennen sie Thira, was entweder „Jagdbeute“, „die Wilde“, „Ernten“, „Sommer“ oder sonst was heißen könnte. Den meisten Inselbesuchern, egal, ob sie mit der Fähre im Haupthafen Athinios anlanden oder mit einem der vielen Luxusliner im Old Harbour, dürfte dies nicht wichtig sein. Zu Massen streben sie per Seilbahn, zu Fuß oder, soweit unter hundert Kilo, auf einem Maultier den 350 Meter hohen Kraterberg hinauf, gönnen sich einen schnellen Blick auf das grandiose Schauspiel. Machen Fotos, für ihre Facebook-Freunde.

Mystique

Oder Instagram. Dann hetzen sie nachmittags zur nächsten In-mit allen Sinnen: „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen derWelt“, wusste schon Gottfried Keller. Wo sich sonst normalerweise Touristen aus USA und Asien in den engen Gassen drängeln, sind nun europäische Be-sucher meist unter sich. Das gilt selbst für das geschäftige Hauptstädtchen Firá und erst recht das eher beschauliche, aber weitaus hübschere Oia. Ach ja, Santorin-Repeater wissen es: Eigentlich wird Oia wie „I-ah“ ausgesprochen – und dies nicht wegen der vielen Esel im Straßenbild. Auch ich habe mich vor Jahren auf den ersten Blick in das Dorf verliebt, das sich so spektakulär an den Rand des Kraters klammert. Wie könnte man auch anders: Dramatisch, hinreißend, malerisch – passenderer könnten die Attribute nicht sein, um das Flair seiner Gässchen zu beschreiben, seiner Cafés, Boutiquen, Ateliers und Tavernen, das Kolorit der Seemannshäuser in Weiß und Rosa, Karamell und Knallgelb, die würdevolle Aura seiner Kirchen wie Panagia Platsani und Agios Georgios. Die Krönung eines Oia-Bummels aber bildet der Aufstieg zum Kastell Argyri, das die Venezianer um 1400 auf den höchsten Punkt setzten und vor dem sich zur Abendstunde Hunder-te Helios-Jünger zum wohl schönsten Sonnenuntergang der Ägäis versammeln. Tief unten in der Ammoudi-Bucht geben sich derweil luxuriöse Privatyachten, schnittige Katamarane und schnöde fchen ein Stelldichein als Zaungäste dieses grandiosen Schauspiels. Wer es sich leisten kann, bezieht in einem der Hotels am Kraterrand Quartier. Diese sind alles andere als Schnäppchen, aber der Blick aus den Zimmern, Terrassen und Mini-Pools ist schon di

Die Griechen sind stolz auf ihre Inselwelt.

Aber so wie die eine
ist keine.

 
 

halbe Miete wert. Meine Wahl fällt diesmal auf das exquisite Mystique. Die Fünf-Sterne-Adresse aus Marriotts Luxury Collection überzeugt mit einem lichten Interior von entwaffnender Klarheit und Simplizität aus hellem Stein und Holz. Dafür hat das französische Designer-Duo Mary Kavagia und Frank Levebvre gesorgt, berühmt für seine Symbiosen von lokalen Design-Traditionen mit zeitloser Eleganz. Die 41 Suiten und Villen kleben dramatisch am Steilhang über der Caldera, natürlich alle mit Balkon und Terrasse, die meisten auch mit Jacuzzi. Noch höhere Ansprüche werden in Luxus-villen namens Secrecy, Mystery und Holistic befriedigt: mit privaten Pools an der Steilwand und Kingsize-Betten, die in pastellweißen Felshöhlen ruhen. Oh ja, so sexy kann Purismus sein.Am nächsten Vormittag lockt das Spa mit Aqua- und Ar-turgemäß mit grandiosem Panoramablick. Mich aber zieht es zu meinem Lieblingsplatz am Meer. Der liegt zwar eine halbe Autostunde entfernt von Oia, aber man kann ja nicht beides haben: Seevogel-Perspektive und zugleich den Beach vor der Tür. Erstbesucher sollten aber wissen: Sandstrände sucht man vergebens; Lavaböden prägen die Paralias, Santorins Kiesstrände. Immerhin wird eine breite farbliche Auswahl geboten: So präsentiert sich der „Paradiso“ hellgrau mit einem Hauch von Ocker, der „Red Beach“ ist ein Hingucker in Rot, und der „Perivolos“ klei-det sich in schickes Schwarz. Ebenfalls schwarz und nicht minder schick sind hier die Strand-liegen des Istoria, das zu Marriotts Trendlabel Design Hotels zählt, und das zu Recht. Wer auf das einmalige Erlebnis eines Felsenhotels verzichten mag, ist hier bestens aufgehoben.Zum Dinner bin ich zurück im Hotel-Restaurant „Charisma“: Zum Meer hin fesselt der Blick über die Caldera, zum Tisch hin eine beeindruckende Platte aus fangfrischem Seafood.

Aber auch sonst kann Küchenchefin Melina Comata aus dem Vollen schöpfen: Die sprichwörtlichQualität seiner Agrarprodukte dankt Santorin der fruchtbaren Vulkanerde, speziell die Tomaten, Oliven und Hülsenfrüchte sind von erlesener Güte. Wer hier Psevdokeftedes bestellt, Bällchen aus Tomaten oder Kichererbsen, eine Melitzanosalata aus weißen Auberginen oder das Fava genannte Püree aus Platterbsen, könnte zum Vegetarier mutieren. Auch Wein gedeiht auf der Insel prächtig: An der ach auslaufenden Ostküste wachsen Athiri, Aï-dani Aspro und Mandilaria, in der Caldera vor allem Assyrtiko und Mavrotragano. Genährt von vulkanischen Böden, entwickeln sie ein r eichhaltiges Aroma und dank der Seeluft eine charaktervolle Säure. Wie der Assyrtiko in meinem Glas, für den die Insel berühmt ist und der gewiss einen tiefen Schlaf und sanfte Träume spenden wird. Santorin, versichert Mystique-Hotelmanager Evangelos Dimos, sei keine Party-Insel wie das benachbarte Mykonos. Aber ein, zwei Clubs gäbe es schon, die mich meine Träume auf später verschieben ließen. Seine Gäste bevorzugen das „Ovac“ – Bar, Nightclub und Restaurant des Hotels Cavo Tagoo im malerischen Dörfen Imerovigli. Von dessen Terrasse man übrigens auf das nächtlich illuminierte Oia und die vom Mond erleuchtete, spiegelglatte See im Krater blickt. Wanderlustige Besucher kommen dafür tagsüber voll auf ihre Kosten: Der Weg von Oia entlang der roten Klippen nach Imerovigli oder weiter nach Firá zählt zu den Must-dos auf der Vulkaninsel. Am nächsten Tag steht Kultur auf meinem Programm – besser gesagt: eine untergegangene Kultur. Ihr spektakuläres Zeugnis ist Akrotiri, das „griechische Pompeji“ im Süden von Santorin, entdeckt 1967 vom Archäologen Spyridon Marinatos.

Unter seiner Regie wurden die Ruinen einer einst blühenden Stadt freigelegt, mit Häuserfassaden bis zu drei Etagen, kunstvollen Fresken und einer hoch entwickelten Infrastruktur samt Kanalisation. Rätselhafterweise fand man aber keine Toten wie in Pompeji. Marinatos folgerte daraus, dass die Bewohner konnten, weil sie die Anzeichen der nahenden Katastrophe richtig interpretierten. Der Vulkanausbruch um 1640 v. Chr., den Geologen die „Minoische Eruption“ nennen, katapultierte 60 Kubikmeter glühende Magma bis zu 40 Kilometer himmelwärts, viermal höher, als Düe Umgebung: Tsunamis, die mit bis zu zwölf Meter hohen Wellen die benachbarten Küsten überwältigten. Dies, vermutete Marinatos, könnte auch der Ursprung der Legende von der untergegangenen Insel Atlantis sein, die der Philosoph Platon um 360 v. Chr. als Parabel auf die Vergänglichkeit von Menschen wie Kulturen thematisierte.Ist Akrotiri also der „Ground Zero“ von Atlantis? War Thira gar selbst das untergegangene Reich? Die Frage nehmen die Santoriner jedenfalls so ernst, dass sie dem versunkenen Atlantis ein eigenes Museum bauten. Marinatos konnte sich daran nicht mehr erfreuen: Er kam in Akrotiri beim Einsturz einer freigelegten Mauer ums Leben. Ähnliches ist bei der Besteigung des einzigen noch aktiven Vulkans Griechenlands, dessen Gipfel die Insel Nea Kameni in der Caldera bildet, nicht zu befürchten. Dorthin treibt es mich heute Abend mit Boot samt Skipper, den der Hotel-Concierge für mich organisiert hat: Hier kann man in magmawarmen Quellen baden und hat den schönsten Blick auf die steilen Felshänge Santorins, für mich in diesem Augenblick die schillerndste und geheimnisvollste Insel auf Erden.

MYSTIQUE In Oia, am Steilhang der Caldera, gelegen, ist das Mystique das exklusivste Haus aus The Luxury Collection auf Santorin. Der Panoramablick aus den 41 Suiten und Villen, von Terrassen und Mini-Pools ist unbezahlbar. Ab 441 Euro. mystique.gr

ISTORIA
Wer nicht unbedingt den (teuren) Blick auf die Caldera haben muss, dem bietet sich mit dem Istoria ein cooles Designhotel direkt am schwarzen Lava-Strand. Ab 312 Euro. istoriahotel.gr

LAUDA RESTAURANT Das Gourmet-Restaurant in Oia unter der Ägide des 3-Sterne-Chefs Emmanuel Renaut ist die allererste Adresse auf Santorin. laudarestaurant.com

THE ATHENIAN HOUSE Schickes Restaurant mit vorzüglicher Küche in Imerovigli. theathenianhouse.com/en

What to do when in Santorin

MYSTIQUE Privates Dinner auf dem wohl schönsten Balkon Santorins. Mehr Romantik geht nicht. mystique.gr/gastronomy/private-dining/Erleben

Mit Skipper JOANNIS RENIERIS lässt es sich besonders stilvoll in den Sonnenuntergang segeln. Fünf Yachten stehen zur Auswahl, für längere Törns auch ein Speedboot. sailingsantorini.gr

VON FIRÁ NACH OIA: die wohl schönste Art, Santorin zu entdecken. Sie sollten gut zu Fuß sein, aber die zehn Kilometer lohnen sich. Die Santoriner sind stolz auf ihren Assyrtiko, einen herrlich frischen, mineralischen Weißwein. Der wächst zwar auch in anderen Regionen Griechenlands, aber der beste kommt von der Insel mit der schwarzen Lava-Erde.

SIGALAS gilt als das Vorzeige-Weingut Santorins, aber es lohnt auch ein Besuch der VENETSANOS WINERY. sigalaswinetasting.com, venetsanoswinery.com