marc newson
7794 Modern Michelangelo

Modern Michelangelo

Ein bisschen kühl, ziemlich perfektionistisch und Körperformen nie ganz fremd – ein neuer Prachtband feiert das Lebenswerk des Produktdesigners Marc Newson

Text: Ulf Lippitz

Designer Marc Newson mit seinem Marble Extruded Table Foto: Jonathan Root / eyevine

Würde es die Designerpersönlichkeit Marc Newson ohne seine Reisetätigkeit geben? Der australische Produktschöpfer glaubt nicht daran. Im Laufe seiner Laufbahn hätten ihn oft andere Kulturen beeinflusst, sagt er, ihre Problemlösungen wie ihre visuelle Kommunikation. Denn „im Gegensatz zu Musik oder Film ist Design in keiner Form an Geografie gebunden“.
Newsons Entwürfe tragen eine entschieden internationale Handschrift, bezeugen eine oftmals abstrakte Herangehensweise und träumen auch immer ein bisschen von der Zukunft.
Alles nachzuschlagen in einem gerade veröffentlichten, opulenten Bildband, einer Werkschau seiner vielfältigen Ideen von 1984 bis in die Gegenwart. Beim Durchblättern stößt man auf Spuren von Newsons Grenzenlosigkeit: Sieht sein berühmter Embryo Chair nicht wie ein japanisches Märchenwesen aus? Könnten seine Flugzeugbetten für Qantas nicht einer skandinavischen Formensprache entstammen? Und denkt man bei seinem quietsch-orangefarbenen Ford-Prototyp nicht an einen Pop-Art-Künstler, der in New Yorker Lofts zu Hause ist? Seinen Wohnort hat Newson mehrmals gewechselt. 1963 in Sydney geboren, lebte ab den späten 80er Jahren zuerst in Tokio, anschließend in Paris und gründete 1997 sein Designbüro in London. Vor knapp zehn Jahren renovierte er mit Hilfe seiner Frau, einer Modestylistin, das Landhaus von Bilbury Court in den beschaulichen Cotswolds – und machte aus dem Hotel seine Privatresidenz. Auf der griechischen Insel Ithaka besitzt die Familie ein Refugium, und in Kalifornien schaut Newson gelegentlich bei seinem Auftraggeber Apple vorbei.
Der ruhelose Produktschöpfer muss Vielflieger sein, um all seine Verpflichtungen zu erfüllen – und bringt nebenbei von jeder Reise ein wenig Inspiration mit.
Marc Newson selbst ist ein, nun ja, halbwegs internationales Produkt. Sein Großvater mütterlicherseits wanderte aus Griechenland nach Australien ein, sein Vater lebte bereits seit Generationen auf dem weit entfernten Kontinent – und gehört zu jenen Europäern, die einst ihr Glück dort suchten. In dieser Melange aus Nostalgie für die alten Wurzeln und Hunger auf die neue Heimat dürfte Newson in den 60er Jahren aufgewachsen sein, in jenem damals noch sehr abseits gelegenen Sydney. In den 80er Jahren studierte er dort Schmuckdesign, weil sie eine der wenigen Hochschulabteilungen hatte, in denen Studenten handwerkliche Techniken beigebacht wurden. „Ich lernte zu löten, zu schweißen, die Grundlagen der Metallurgie, Fähigkeiten, die für mich unentbehrlich werden sollten.“
Eine womöglich anachronistische Herangehensweise heute, aber eine, die Newson ermöglichte, anders zudenken. „Die Limitierungen, die einem aufgebürdet werden, wenn man etwas analog anfertigt, fördern Kreativität.“ Und diese kennt weder regionale noch inhaltliche Grenzen. Seine Abschlussarbeit an der Hochschule war ein, in seinen Worten, „tragbares Möbelstück“, 1986 feierte er seinen Durchbruch mit einer limitierten Stuhlkollektion in einer Kunstgalerie, danach erdachte er Flaschen für den Kosmetikkonzern Shiseido, Trophäen für den renommierten America’s Cup oder Rucksäcke für die Luxusmarke Louis Vuitton.

Sein bekanntestes Objekt ist wohl die Lockheed Lounge von 1988, ein Ruhemöbel fürs Wohnzimmer. Da das mit Aluminium umspannte Endprodukt ein wenig an das bekannte Flugzeugmodell aus den USA erinnerte, erhielt es den ungewöhnlichen Spitznamen. Newson beschreibt im gerade veröffentlichten Bildband, wie er zunächst das Seitenprofil der Form auf den Schaumstoffblock zeichnete und ihn anschließend mit einer Säge bearbeitete. Er vervollständigte das Möbelstück durch freies Schleifen mit Sandpapier und einer Drahtbürste, bis er mit der Form – die von der Seite an einen verwitterten Löwen aus einem ägyptischen Tempel gemahnt – zufrieden war. Die Erfahrung, solch ein ikonisches Designobjekt geschaffen zu haben, verglich er mit dem Gefühl, das Michelangelo gehabt haben muss, als er eine Skulptur aus einem Marmorblock herausschnitzte. Allerdings gab er vor einigen Jahren zu, langsam den Bezug zu dieser frühen Arbeit zu verlieren. Heute nennt er sie nur noch sein „long-lost child“, sein lange verloren gegangenes Kind. Kein Wunder, so viele Aufträge stehen mittlerweile zwischen dem ersten Erfolg und den letzten Arbeiten. So viele unterschiedliche Produkte: Für den schwedischen Tabakhersteller Blend fertigte er einen schlichten Aschenbecher aus schwerem Grünglas an, für den italienischen Hersteller Alessi einen schlichten Flaschenöffner aus safrangelbem Kunststoff. Seine berühmte Apollo-Taschenlampe gleicht einem aluminiumbehafteten Filzstift. Und Newson schreckte auch nicht vor der heiklen Aufgabe zurück, ein Sexspielzeug für den Londoner Hersteller Myla zu entwerfen. Er erdachte eine Art rundes Pop-Art-Objekt mit einem großen Noppen in der Mitte. „Niemand hat es jemals wirklich als Sexspielzeug benutzt“, glaubt Newson, „sondern eher als Briefbeschwerer“.Über die Jahre wurden seine Aufgaben komplexer, wandte er sich von scheinbar kleinen Nischenprodukten zu alltäglich verwendeten Gegenständen zu. Er soll für das ursprüngliche Design der ersten Apple-Watch verantwortlich gewesen sein – zusammen mit seinem guten Freund und damaligen Apple-Chefdesigner Jonathan Ive. Der Brit enannte ihn einmal einen unvergleichlichen Kollegen, der wie ein Monolith aus seiner Gilde herausragt. Die letzte große Ehre wurde Marc Newson zuteil, als der größte Kunsthändler der Welt, Larry Gagosian, einige seiner Objekte in seiner Galerie ausstellte – und ihn damit 2019 in den Adelsstand der zeitgenössischen Kunst erhob. Wer sich also das nächste Mal in eines der komfortablen Skybeds von Qantas in den Schlaf wiegt, kann mit dem guten Gefühl einschlummern, gerade die perfekte Verschmelzung von Kunst und Kommerz zu erfahren.

Marc Newson Works 84-24, Hardcover, 29,2 x 39 cm, fünf Kilo, 496 Seiten, Taschen, 150 Euro

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