Text: Patricia Engelhorn
San Miguel de Allende: 80.000 Einwohner-Städtchen mit sonnigem Klima, vielen Kunstgalerien, guten Restaurants und netten Läden.
Dunkle Wände aus Vulkangestein, hohe gewölbte Decke – der Raum wirkt im ersten Moment wie eine elegante, sehr moderne Kapelle. Seit der Eröffnung vor rund 15 Jahren ist er in gewisser Weise tatsächlich zu einem Ort der Andacht geworden, dessen Besucher den Tequila-Göttern ihre Aufwartung machen, indem sie die Agavenschnäpse der Manufaktur Casa Dragones verkosten. Kenner können gar nicht genug vom wasserklaren, nach Zitrusfrüchten und Gewürzen, Blumen und Holz duftenden Casa Dragones Joven bekommen, der an der altarähnlichen Bar mit nur sechs Sitzplätzen in langstieligen Gläsern serviert wird. Oder vom Casa Dragones Reposado, der in japanischen Mizunara-Fässern gereift ist, oder vom Top-Produkt Casa Dragones Blanco mit seinem frischen und dennoch weichen Agaven-Aroma. Wer das Lokal verlässt, steht auf der kopf-steingepflasterten Relox-Straße zwischen schönen alten Kolonialgebäuden und blickt auf die in leuchtendes Rosé getauchte gotische Kathedrale Parroquia de San Miguel Arcángel – was an der tief liegenden Abendsonne liegt und nicht etwa am konsumierten Alkohol.
Nur wenige Autostunden von Mexico City entfernt und eingebettet in das malerische Hochland des Bundesstaats Guanajuato liegt San Miguel de Allende, ein knapp 80 000-Einwohner-Städtchen mit sonnigem Klima, vie–len Kunstgalerien, guten Restaurants und netten Läden. Schon in den 1950er-Jahren zog es mexikanische Malerfürsten wie Diego Rivera oder David Alfaro Siqueiros an; bis heute wirkt die Magie des Ortes auf Menschen, die eine lebendige kulturelle Gemeinschaft kombiniert mit einem glamourösen Boho-Chic zu schätzen wissen.
„Ich habe in Mexico City, Oaxaca, Puerto Vallarta und Yucatán gelebt, aber erst in San Miguel habe ich mich zu Hause gefühlt. Dieser Ort ist irgendwie besonders.“
Schmuckdesignerin Amanda Keidan
Nicht nur einmal wurde die Kleinstadt zur besten Destination in Mexiko gekürt und führt die Reisehitparade dank seiner außergewöhnlichen Architektur, dem entspannten Lebensstil und den vielen tollen Hotels an.
An Letzterem sind Leute wie Amanda Keidan nicht ganz unschuldig: Vor knapp fünf Jahren eröffnete sie das charmante Fünf-Zimmer-Hotel Casa Delphine, das sich hinter einer türkisfarbenen Tür in einer stillen Gasse nur wenige Schritte vom Stadtzentrum verbirgt. Die sechs Luxus-Loft-Zimmer von Casa No Name haben Urlauber ebenfalls einer Amerikanerin zu verdanken. Sie befinden sich im ehemaligen Privathaus der gefeierten Moderedakteurin und Fotografin Deborah Turbeville, die in den 70er-Jahren mit „Vogue“, Chanel und Valentino arbeitete. Und MTV-Gründer Bob Pittman ist nicht nur der Macher hinter Casa Dragones, sondern auch der Inhaber von Casa Chorro, einer prächtigen kolonialen Mietvilla, die mit Pool, Park und sieben eleganten Zimmern prunkt.
Schätzungen zufolge sind zehn Prozent der Bevölkerung von San Miguel de Allende, kurz SMA genannt, Expats, die ganz oder teilweise vor allem aus Nordamerika und Europa zugezogen sind. Man trifft sie morgens um neun auf der Dachterrasse des „Lavanda Café“, wo sie sich zum Cappuccino eine Portion Rancheros – Spiegeleier über gebratenen Tortillas mit schwarzen Bohnen und Käse – und eine Scheibe des noch ofenwarmen Mandel-Bananenbrotes servieren lassen. Oder auf dem gleich dahinter gelegenen Mercado Ignacio Ramírez, dessen Verkaufstische unter großen Stücken knusprig gebratener Schwei-neschwarte („Chicharrónes“), Bergen von Avocados, Limetten und Maiskolben, Feigen-kaktusblättern („Nopales“), hellgrünen Chayote-Kürbissen und Chilischoten in vielen Farbschattierungen zu brechen drohen. Andere Stände locken mit duf–tenden Mangos und Papayas, die à la minute geschält, geschnitten und zusammen mit einem Gäbelchen in Plastikbecher gefüllt werden – als Take-away der gesunden Art.
Wer sich satt gegessen hat, bummelt bis zur Kathedrale und stoppt unterwegs im hallenartigen Concept Store Casa R mit farbenfroher Mode und Accessoires von rund 80 mexikanischen Designern, stöbert im Dôce 18 nach den Kultjuwelen der Marke Sangre de mi Sangre, den bestickten Textilien von Hilando México und den Keramikschalen von Cerámica Estanzuela und bewundert in dem kleinen Laden Los Baúles Remigio die wunderschönen, indigoblauen, handgewebten und -gefärbten Leinen-, Seiden- oder Alpakaschals und lässige Kaftans.
Doch mehr als für Mode ist San Miguel für seine Kunst- und Kulturszene bekannt – fast in jeder Gasse findet sich (mindestens!) eine Galerie, ein Keramik-Atelier oder ein Design-Store. Im Centro Cultural Ignacio Ramírez „El Nigromante“ sind neben dem zauberhaften Waschfrauen-Wand-gemälde von Eleanor Cohen und dem Vampir-Mural von Pedro Martínez auch wechselnde Ausstellungen von zeitgenössischen Künstlern zu sehen. Jedes Jahr finden in SMA eine Autoren-Konferenz, ein Kammermusikfestival und ein Jazz-Festival statt.
Als besonderes Highlight gilt La Fábrica la Aurora, ein vor rund 20 Jahren eröffnetes Galerien-Zentrum in einer ehemaligen Textilfabrik, die zu ihren aktiven Zeiten zwischen 1902 und 1991 San Miguel de Allendes größtes Industrie-unternehmen war. Die ursprüngliche Struktur von La Fábrica ist größtenteils intakt: Die lange Backsteinfassade wird von Bögen aus Vulkan-gestein unterbrochen, der Haupteingang ist mit einem schmiedeeisernen Tor versehen, über dem der Schriftzug La Aurora prangt.
Bis heute sind auf dem weitläufigen Gelände alte Zinser-Webstühle für die Herstellung von Kammwolle, mächtige Kessel, Rohre und Motoren zu sehen, dazwischen haben sich über 30 Kunstgalerien, aber auch Glas-Ateliers, Keramik-Werkstätten und Vintage-Läden eingerichtet. „An den Wänden meines Ateliers sind noch die Spuren der Maschinen von früher zu sehen“, sagt Mary Rapp, Bildhauerin, Max-Beckmann-Schülerin und Mitbegründerin des Zentrums, „sie haben mit den Jahren ihren Weg in meine Werke gefunden.“
Bei einem Spaziergang durch La Aurora können Besucher die offenen Ateliers erkunden und Gemälde, Design-Objekte oder Bücher erwerben. Einige Galerien veranstalten gemeinsame Vernissagen, oft kommen international bekannte Künstler, um ihre Werke zu präsentieren. Dazu gibt es ein paar gastronomische Angebote – allen voran das freundliche halb offene „Café de la Aurora“ mit Salaten, Sandwiches, Pasta-Gerichten, Pizzen und täglich wechselnden mexikanischen Klassikern, die nicht nur den Magen füllen, sondern auch schmecken.
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