Travel
Text: Reinhard Modritz
Also ehrlich, das hatte ich mir anders vorgestellt. Was man halt so erwartet, wenn man zu einem der exklusivsten Outdoor-Abenteuer aufbricht, das das Leben zu bieten hat. Aber das Silverhatten Resort im nordschwedischen Arjeplog atmet den Charme eines Bauarbeiter-Containers. Nur draußen vor der Tür wartet eben kein Bagger, sondern ein Ferrari GTC4Lusso, danach lechzend, dass jemand die 690 Pferdestärken unter der Ferrari-roten Motorhaube bändigt. Acht Monate im Jahr ist Arjeplog in Schwedisch Lappland, nur 70 Kilometer südlich des Polarkreises, ein ereignisloses Nest.
13 000 Quadratkilometer verschneiter Wildnis mit 500 Millionen Bäumen, 8727 Seen, geschätzten 20 000 Rentieren, 4000 Elchen, einem Dutzend Bären – und ganzen 2892 Einwohnern. Fünf Menschen pro Quadratkilometer. Einsamer geht’s nicht. Selbst den meisten Schweden sagte der Namen nichts, wären da nicht die anderen vier Monate: Von Dezember bis Anfang April mutiert die Region zum automobilen Dorado. Kein großer Autobauer, der hier nicht seine neuen Modelle auf Eis und Schnee und Herz und Nieren testen ließe – unter extremsten Bedingungen. Die Seen sind meterdick zugefroren, das Thermometer fällt schon mal auf minus 50 Grad. Doch genau darauf haben die Tester, Serviceleute und Ingenieure gewartet, die in diesen Monaten zu Aberhunderten in Arjeplog einfallen. Dann ist in der Umgebung kein Zimmer mehr zu kriegen. Sehr zum Leidwesen derjenigen Besucher, die mit röhrenden Motoren und Höchstgeschwindigkeiten nichts am Hut haben. Denen zeigt sich die Wildnis ganz zahm und einladend. Etwa zum Wandern über die endlosen, tief verschneiten Weiten. Wer nicht ganz so gut zu Fuß ist, nimmt einfach den Schlitten, egal ob mit Motor, Husky-Gespann oder Rentieren. Andere gehen Eis-Fischen, Mountainbiken oder auf Elch-Safari. Und nirgendwo sonst locken so wunderbare Langlauf-Loipen wie hier. Sogar für Alpin-Skifahrer ist gesorgt, mit immerhin drei bis zu eineinhalb Kilometer langen Pisten am Prästberg bei Arvidsjaur. Und das sogar rund um die Uhr: Im nordischen Winter sind Loipen und Pisten Tag und Nacht beleuchtet. Obwohl Lapplands Sterne immer funkeln und die ganze Landschaft silbrig blitzt und blinkt, wenn sich der Schein des Mondes im Schnee fängt. Mit etwas Glück kommt noch die Aurora borealis hinzu, die ihr ständig wechselndes Farbenspiel in den tiefblauen Himmel der Polarnacht zeichnet.
Vielleicht sollte ich irgendwann mal wiederkommen, um diesen Glamour zu genießen. Aber jetzt will ich, muss ich, dem Objekt meiner Begierde meine Reverenz erweisen. Der GTC4Lusso ist Adrenalin pur, auch wenn er als echter Viersitzer mit veritablem Kofferraum für einen Boliden dieser Klasse fast schon wie ein Kombi auftritt. Da knapp 700 Pferdestärken unterm Allerwertesten nicht zu meiner Alltagsroutine gehören, bekomme ich für den Umgang mit dem „Cavallino Rampante“ einen Pro am Steuer gestellt: Raffaele de Simone, ehemaliger Rennfahrer und Chef-Testfahrer im Ferrari-Stall. Ein vertrauensstiftendes Lächeln, dann anschnallen – und ab geht’s mit Gebrüll. Zwölf Zylinder auf blankem Eis erst in wilder Jagd auf gerader Strecke, dann durch halsbrecherische Kurven, dass mir die Haare zu Berge stehen und gleichzeitig das Herz vor Freude hüpft. Raffaele lacht, seine Augen leuchten, und bei gefühlten 250 Stundenkilometern erklärt er mir das Geheimnis des sagenhaften Grips, während ich mich an alles klammere, was in meiner Reichweite ist: Der GTC4Lusso besitzt einen kleinen magischen Zauberknopf am Lenkrad, den mein Ferrari-Pilot zärtlich „Manuelito“ nennt und der aus einem Auto deren vier macht: je nach Einstellung perfekt abgestimmt auf Sport, Komfort, Nässe oder Eis.
Und Manuelito hat es drauf: Auch bei spiegelglatter Fahrbahn bleibt der zwei Tonnen schwere Bolide besser in der Spur als der beste SUV – natürlich auch dank Allrad und Vierradlenkung. Später, im Rundkurs auf dem zugefrorenem Hornavan-See, geht der Tanz auf dem Glatteis erst richtig los. Halb aus Panik, halb aus Interesse frage ich, ob der Wagen denn bei diesem Parforceritt überhaupt noch zuverlässig zu bremsen sei. Das hätte ich besser bleiben lassen sollen, denn sofort tritt Raffaele heftig auf die Bremse – wir schnellen in die Gurte, das rote Rennpferd kommt augenblicklich zum Stehen: „Vedi, amico“, sagt Rafaele, „non c’è problema.“ Und erzählt weiter, dass wir uns auf historischem Terrain bewegen: Sowohl ABS wie auch ESC wurden auf Arjeplogs Eisseen zum ersten Mal getestet. Das ist so beruhigend, dass ich mich nun selbst hinters Lenkrad traue. Damit ich auf keine allzu abenteuerlichen Ideen komme, verlassen wir das eisige Testgelände und brausen nach Norden, zum 80 Kilometer entfernten Polarkreis. Teils führt die Tour durch dichte Wälder auf festem Schnee, teils auf trockenen Straßen entlang zahlloser zugefrorener Seen, dann kurvige Bergstrecken hinauf und hinunter. Der Rote und ich werden schnell beste Freunde, ein leichtes Tippen mit den Fingern, und schon schaltet das Getriebe unmerklich in den nächsten Gang. Wer es noch bequemer mag, drückt den „Auto“-Knopf, der in eigener Regie zwischen sieben Gängen entscheidet.
Aber den rühre ich nicht an, bin fest entschlossen, die Fahrt weiter selbst schaltend und waltend in vollen Zügen zu genießen. Ab und zu braust uns von Norden ein Mitbewerber entgegen – meist deutschen Fabrikats und ebenfalls mit einem springenden Pferd als . Dann wird zum Gruß beim Vorbeirauschen ein-, zweimal gehupt, und weiter geht die furiose Fahrt. Währenddessen plaudert Raffaele über das lappländische Autotester-Dorado: „Im Winter schlagen hier rund 30 000 Ingenieure, Mechaniker und ‚Biltestare‘ (schwedisch für Testfahrer) auf“, erzählt er, „um im Auftrag ihrer Firmen deren aktuelle Innovationen zu testen – optimierte Bremssysteme, Software-Handlings, oder auch nur eine neue Reifen-Generation.“ Die Superstars auf den Eispisten sind aber die „Erlkönige“, Prototypen, die noch nicht für die Augen der Öffentlichkeit bestimmt sind und die sich hier, am nördlichen Polarkreis, erst einmal beweisen müssen. Und wie hat das alles angefangen? „Das war in den 1960er-Jahren durch puren Zufall: Es gab Firmen, die im 500 Kilometer nördlich gelegenen Kiruna getestet haben und denen bei einem Tankstopp die vereiste Landebahn von Arvidsjaur auffiel.“
Damit kamen die smarten Schweden Sundström und Andersson ins Spiel, die es mit ihrer Firma „Icemakers AB“ mittlerweile zum weltweiten Marktführer als Wintertestgelände-Designer gebracht haben. „Anfangs haben sie nur warmes Wasser auf die dicken Eisschichten der Seen gesprüht, um glatte Flächen für die Autos zu erzeugen“, erzählt Raffaele, „dann erkannten sie das Potenzial ihrer Idee und stellten ein komplettes Testgelände hin.“ Neben den klassischen Ice Tracks gibt es Split Tracks mit einseitig beheizbarem Asphalt sowie Parcours mit Stufen, Löchern, Höckern und Kreiseln zum Driften. Überdies hat Icemakers auch komplette Rennkurse wie Silverstone und den Nürburgring eins zu eins auf Eis kopiert, insgesamt 1500 Kilometer im Laufe des Winters. Zuerst kamen Opel und Bosch, dann folgten Mercedes, BMW, VW und Porsche. Und, exklusiver geht’s nicht, Ferrari. Arvidsjaurs Landepiste wuchs zum Airport, auf dem in der Saison täglich Maschinen aus Stuttgart, Frankfurt, München, Hannover, Birmingham und Turin landen, Testzentren mit Werkstätten wurden hochgezogen, Gaststätten, Läden und Hotels.
Eines der weit besseren als mein bescheidenes Quartier, die „Silver Lodge“, wird in der Wintersaison komplett von Mercedes gebucht, deshalb hat VW lieber gleich ein eigenes Haus für seine Mitarbeiter gebaut – heute ist es mit 490 Zimmern das größte Hotel Schwedens. Einmal hin zum Polarkreis, ein schnelles Foto vom Schild mit der Aufschrift „Polcirkeln“, pflichtschuldiges Ergriffensein, und dann gleich zurück, denn zur Abrundung meines fantastischen Tages wartet in der „Hunting Lodge“ ein Dinner mit deftiger hochnordischer Küche. Jetzt kenne ich die Strecke ja schon, außerdem habe ich Hunger, also drücke ich mehr aufs Gas als bei der Hinfahrt. „Was für ein Trip, im nächsten Leben werde ich Biltestare“, jubiliere ich. „Das ist nicht nötig, man kann sich auch privat hier austoben“, sagt Raffaele. Wie das? „Zu den Testern auf den Pisten gesellen sich immer mehr Automobilisti, die einfach aus Herzenslust über Schnee jagen und übers Eis driften wollen. Die bekommen dann im Package ihre Fahrzeuge gestellt.“ Manche von ihnen sogar kostenlos: „Viele der großen Firmen lassen sich nicht lumpen“, verrät Raffaele, „wenn es darum geht, guten Geschäftspartnern, treuen Kunden oder prospektiven Käufern ein besonderes Erlebnis zu bieten.“ Die werden dann für ein paar Tage als VIP-Gäste eingeflogen.
In der „Hunting Lodge“ eingetroffen, gibt es zum Auftakt Stücke vom Wildlachs, die alles Bisherige verblassen lassen, dann Steak vom Elch und Filet vom Rentier, beide von betörender Würze und zart wie Butter. Am Rentier übrigens verdienen besonders die einheimischen Samen, die „First Nation“ Lapplands, denn dank königlich-schwedischem Privileg dürfen nur sie diese robusten Vierbeiner züchten. Am Ende meiner drei magischen Tage in Schwedisch Lappland checke ich in einer Unterkunft ein, die zu den Ikonen der nordischen Hotellerie gehört: im „Iglootel“ bei Arjeplog. Jedes Jahr wird es von Neuem ganz aus Schnee und Eis errichtet, mit zehn individuell gestalteten Schlaf-Iglus. Eine Warnung an Warmduscher: Angenehmer als maximal vier Grad minus wird es hier nie, was allerdings im Thermo-Schlafsack auf dicken, kuscheligen Rentierfellen gut verträglich ist. Wer sich vor dem Einschlafen trotzdem noch mal extra aufwärmen will, frequentiert die holzbefeuerte Rundsauna im Aurora-Spa oder die beheizten Outdoor-Whirlpools. Oder man besucht die „Igloo Bar“ oder den „Fire Room“, wo die Gäste beim Grog oder Schwedenkräutertee an einer offenen Feuerstelle gern einen Plausch abhalten. Ich entscheide mich für den „Fire Room“. Aber unterhalten mag ich mich heute nicht. Weil ich nach all dem Motorenklang der letzten Tage mein Glück still genießen will.