Travel

Scheitern, um zu siegen

Vor 100 Jahren starb der Polarforscher Ernest Shackleton. Sein Lebensziel, die Durchquerung des Kontinents Antarktika, blieb ihm verwehrt. Als Held aber wurde er unsterblich

Text: Mathias Forster

Entdecker haben es schwer – umso mehr in Zeiten, in denen in jeder Ecke der Erde schon mal jemand war. 1914 aber gab noch es einen großen weißen Flecken auf dem blauen Planeten: den Kontinent Antarktika. Nachdem der Norweger Amundsen 1911 den Südpol erreicht hatte, fasste der in Irland geborene britische Polarforscher Ernest Shackleton* einen abenteuerlichen Plan: „Die neue Aufgabe ist eine transkontinentale Reise via Südpol“, notierte er 1912. Obwohl sein tollkühnes Reiseprojekt, die „Imperial Trans-Antarctic Expedition“ (1914–16), misslang, erntete Shackleton ewigen Ruhm. Tagebücher und seine mithilfe von Rudyard Kipling verfassten Erinnerungen berichten von den Strapazen.

Auferstanden aus den Fluten

Im Dezember 1914 biss sich Shackletons Dreimastbark „Endurance” im Packeis des Weddellmeers fest. Damit war die eigentliche Mission der „British Imperial Trans-Antarctic-Expedition” bereits unmöglich geworden

Mai 1913: „Die (Schonerbark) Polaris hatte eine Stange Geld gekostet, aber macht einen guten Eindruck. Ich habe sie in Endurance umgetauft, getreu dem Leitspruch meiner Familie, ‚By endurance we conquer‘ (Dank Ausdauer siegen wir). So sollte nichts schiefgehen.“ Zu viel der Zuversicht. Doch dank Ausdauer gibt es keine Tragödie.

8. August 1914: „Das Abenteuer beginnt: Wir verlassen den Hafen von Plymouth mit Südkurs.“ Dass wenige Tage zuvor der Weltkrieg ausgebrochen war, ist ihm kein Wort wert. Fairerweise sollten wir erwähnen, dass Shackleton bereit ist, von seiner Reise zurückzutreten und die „Endurance“ stattdessen in den Militärdienst zu stellen. Doch der Erste Lord der Admiralität lehnt ab. Sein Name? Winston Churchill. Fast vier Monate braucht die Reise in den kalten Süden.
5. Dezember 1914: „Aufbruch von Südgeorgien mit Kurs Süd-Südost. Welches Willkommen wird uns das Weddellmeer bereiten?“ Ein frostiges: Schon im Dezember wird das Eis nach der „Endurance“ packen. Und sie nicht mehr loslassen.

17. Dezember 1914: „Bin beunruhigt. Wir trafen auf dichtes Drifteis. Über Weihnachten könnten wir vor Anker an einer Eisscholle festsitzen.“ 31. Dezember 1914: „Es kommt noch schlimmer. Wir sind eingeklemmt zwischen zwei Schollen und driften ab von der Küste.“
17. Januar 1915: „Das Wetter ist grausig, wir haben im Windschatten eines Eisbergs Schutz gesucht und kommen wieder zum Stillstand.“
14. Februar 1915: „Die Männer versuchten alles, um die Durchfahrt frei zu machen, mit Meißeln, Sägen und Hacken, doch vergeblich.“ Ende Februar erreicht die „Endurance“ ihre südlichste Breite bei 76° 58´. Die Hunde werden von Bord gebracht und in „dogloos“ (Hunde-Iglus) einquartiert. Das Funkgerät ist nutzlos, Radionetze sind fern.

Im Oktober 1915 ließ Shackelton das Schiff evakuieren und ein Camp auf dem Treibeis einrichten. Expeditionsfotograf Frank Hurley dokumentierte den Alltag
 

14. April 1915: „Das Eis stapelt sich höher und höher.“ Und klarsichtig prophezeit er: „Wenn das so weitergeht, wird das Schiff wie eine Eischale zerdrückt.“ Trotz der bedrückenden Entwicklungen beschwört Shackleton Durchhaltevermögen:
1. Mai 1915: „Die Sonne hat sich in den Winter verabschiedet, dafür schenkt uns der Vollmond ein tröstliches Licht. Dazu hellt Tom Crean mit seinen frechen irischen Liedern unsere Stimmung auf.“ So gehen die Monate dahin. Bis eine katastrophale Entwicklung der Expedition den Todesstoß versetzt. Im Oktober schiebt sich Eis unter den Kiel und schlitzt der „Endurance“ den Rumpf auf. Shackleton lässt drei Rettungsboote und die Vorräte aufs Eis bringen, während sich die Crew an den Pumpen abmüht. Der Ire notiert sein Scheitern:
27. Oktober 1915: „Sah mich gezwungen, das Schiff zu evakuieren. Wir hatten gekämpft und verloren.“ Dramatischer beschreibt der US-Publizist Alfred Lansing in seinem Buch „Endurance: Shackleton’s incredible Voyage“ (1959) das Ende der „Endurance“: „Die Kraft von zehn Millionen Tonnen Eis drückte gegen die Bordwände. Das Schiff wurde zermalmt (…), langsam, Stück für Stück. Es ächzte und schrie im Todeskampf.“ Ein Logbucheintrag von Kapitän Frank Worsley hält den Untergang für die Nachwelt fest:
21. November 1915: „Wenn jemand, so wie wir, jeden Winkel eines Schiffes kennt, das so tapfer kämpfte, ist der Augenblick der Trennung nicht ohne Pathos. Es gab keinen, der nicht nicht ergriffen war, als Sir Ernest leise sagte: „Sie ist von uns gegangen, Jungs.“ An eine Fortsetzung der Expedition ist nicht mehr zu denken, jetzt geht es nur noch ums Überleben. Die Männer richten sich im „Patience Camp“ auf dem Treibeis ein. Bald werden die Vorräte knapp. Abhilfe schafft das Fleisch erlegter Robben. Doch das reicht nicht:
10. Januar 1916: „Ich sehe mich wohl gezwungen, unsere Hunde erschießen zu lassen. Von den Robben allein können wir nicht leben.“ Das Ende des Camps naht am 8. April 1916, als die Scholle zerbricht. Eilends lässt Shackleton die Rettungsboote klarmachen. Halb erfroren und durchnässt vom Eiswasser, erreichen sie am 14. April 1916 Elephant Island – so genannt wegen heimischer Seeelefanten, aber auch weil sie einem Elefantenkopf gleicht.

Ein letztes Bild vor dem Bug, dann wird die„Endurance” im November 1915 von den Eismassen zermalmt, und Ernest Shackelton befiehlt seiner Crew den Aufbruch zu einer eisigen Odyssee

Thomas Orde-Lees, 15. April 1916: „Sir Ernest setzte als erster seinen Fuß an Land, das aber außer Felsen nichts zu bieten hat (…) trotzdem erschien es uns nach so langer Zeit auf Eis wie ein irdisches Paradies.“ Das allerdings am Ende der Welt liegt. Um seine Männer zu retten, muss Shackleton Hilfe holen. Er beschließt, mit einem der Boote die 1500 Kilometer weite Fahrt nach Südgeorgien zu wagen. 24. April 1916: „Ich hatte sechs Mann für die Mission gewählt. Die übrigen 22 Mann müssen auf der Insel ausharren. Möge das Unmögliche gelingen.“ Tatsächlich erreicht Shackleton nach zweiwöchigem Kampf mit schwerer See am 8. Mai 1916 die Südküste Südgeorgiens. Doch das ist erst der erste Schritt: Die Walfängerstationen liegen allesamt an der Nordküste. Da das Wetter immer schlechter wird, kommt eine Umschiffung nicht infrage. Die Männer müssen das unwirtliche Land durchqueren.
19. Mai 1916: „Ich nahm Crean und Worsley mit. Bis zum Morgengrauen waren wir auf 1000 Meter gestiegen und konnten die Nordküste sehen (…) Der Abstieg im Vollmondlicht währte bis zum nächsten Morgen.“
20. Mai 1916: „Gegen sieben Uhr hörten wir die Dampfpfeife von der Station Stromness, dann fielen wir uns in die Arme.“ Doch von der Erlösung seiner zurückgelassenen Kameraden sind Shackleton und seine Männer noch weit entfernt. Drei Rettungsversuche enden im Packeis vor Elephant Island, der erste mit einem Walfänger, der zweite mit einem Fischdampfer, der dritte mit einem Schoner. Die 22 Männer dort haben inzwischen keine Hoffnung mehr: Alle sind krank und schwach, zahllose Zehen müssen amputiert werden, keine Pinguine kommen mehr an Land, die man erlegen und essen könnte. Thomas Orde-Lees vertraut seinem Tagebuch an: „Wir werden denjenigen essen müssen, der als erster stirbt.“ Doch Shackelton gibt nicht auf. Im August startet er mit dem eistüchtigen chilenischen Dampfer „Yelcho“ einen vierten Versuch.
27. August 1916: „Über dem Meer liegt dichter Nebel, aber es ist offen!“ Um 11.40 Uhr am 30. August lichtet sich der Nebel, und das Lager wird gesichtet. Später, in „South“, schreibt Shackleton: „Die folgenden Äußerungen meiner Männer habe ich ihren Tagebüchern entnommen, ergänzt mit Details aus Gesprächen auf unserer Rückreise in die Zivilisation: ‚Mit ungläubigen Augen starrten wir zu der Rauchwolke die sich der Insel näherte. Oh Gott, ein Schiff!, schrie einer, und ein anderer: Mein Gott, Sir Ernest kommt!‘ – ‚Da kam er im Beiboot heran und rief uns zu: All safe? All well? – All safe, all well, bekam er zur Antwort.‘ – ‚Bevor Sir Ernest anlanden konnte, warf er uns Zigaretten ans Ufer – das war für uns alle, die wir monatelang nur kokelnden Seetang rauchen konnten, wie ein Gottesgeschenk.‘ – ‚An Bord gab es Kaffee!, Gemüsesuppe!, und endlich wieder Betten! (…) Wir alle werden den 30. August als unseren Wiedergeburtstag feiern, so lange wir leben!‘“

1. Nachtrag: Vier Jahre nach dieser Extrembelastung, am 5. Januar 1921, erliegt der von Anstrengungen und wohl auch Alkoholsucht geschwächte Ernest Shackleton in Südgeorgien auf seiner vierten Reise Richtung Antarktis einem Herzinfarkt. Dort wird er am 5. März 1922 begraben.

2. Nachtrag: Die erste Durchquerung Antarktikas, 40 Jahre nach Skackletons Versuch, gelingt Vivian Fuchs 1958 – mit Pistenfahrzeugen und Unterstützung aus der Luft.

3. Nachtrag: Am 15. Juni 2004 erreicht der Rover „Opportunity“ im Meridiani Planum den Mars-Krater „Endurance“ – benannt nach Shackletons Sieg, den er der Niederlage abgerungen hatte. By endurance he conquered.

Niemand will da hin

The Life Of Ernest Shackleton

15. Februar 1874
Shackleton wird als Sohn eines wohlhabenden Grundbesitzers im irischen County Kildare geboren. Schon früh träumt er von einem Leben als Entdecker und vergräbt sich in Jules Vernes Romane und den Atlas seines Vaters Henry. Eines Tages fragt er ihn, was das für ein weißer Fleck unten auf dem Globus sei. „Antarktika. Da ist nur Eis, und niemand will da hin.” Ernest schon. Unbedingt.
1890–1900 Karriere bei der Handelsmarine. Anfangs als Seekadett, später als Offizier, reist Shackleton rund um die Welt.

1901–1904 Auf der „Discovery-Expedition” ins Ross-Schelfeis, seiner ersten Forschungsreise, dient er als Dritter Offizier unter dem Kommando von Robert Falcon Scott. Ein Vorstoß zum Pol mit Hunden scheitert bei 82° 17’ Süd. Anschließend entlässt Scott den durch Skorbut geschwächten Shackleton nach Hause (1903), angeblich wegen „Dienstuntauglichkeit”. Der wahre Grund: Eifersucht auf seinen zwanglosen Führungsstil, mit dem Shackleton die Crew für sich einnimmt. Shackletons Racheplan: Scott in den Schatten zu stellen.
1908–1909 Das gelingt ihm bereits als Leiter der „Nimrod- Expedition” mit seinem Südfahrt-Rekord bis 88° 23’. König Edward VII. schlägt ihn dafür zum Ritter.
1914–1916/17 „Endurance-Expedition”, offiziell: „British Imperial Trans-Antarctic Expedition”, mit dem Ziel der ersten Durchquerung des Kontinents Antarktika. 1919 In London erscheint die Erstausgabe von „South”, Shackletons Reisebericht. Die literarische Qualität des Textes verdankt sich der Mitarbeit von Rudyard Kipling, mit dem er sich 20 Jahre zuvor in Kapstadt angefreundet hatte.
1920 Planung seiner vierten Antarktisreise, der „Quest-Expedition”. Ihre Mission: die vollständige Umrundung des Kontinents Antarktika, seine Neukartierung und die Erforschung noch unentdeckter subantarktischer Inseln.
5. Januar 1922 Nach einem Herzinfarkt stirbt Shackleton in Grytviken auf Südgeorgien, acht Jahre zuvor Startpunkt der „Endurance-Expedition”. Dort wird er auf Wunsch seiner Witwe beigesetzt. Das Grab zieren die lakonischen Worte „Ernest Henry Shackleton. Explorer”.