Text: Patricia Engelhorn
Zu den sympathischen Gepflogenheiten der Briten zählt ihr Feierabendbier im Pub. Genau genommen vor dem Pub, denn egal, wie nasskalt es auch sein mag, der Pint schmeckt offenbar am besten draußen auf dem Gehweg. So auch im „The Audley“, einem weit über 100-jährigen Lokal im Erdgeschoss eines prächtigen viktorianischen Backsteingebäudes. Ab dem späten Nachmittag schwillt die Menschentraube vor der Tür, wobei die vorfahrenden Limousinen hier etwas länger sind und die Gäste noch schicker als sonst in Mayfair.
Kein Wunder: „The Audley“ befindet sich direkt an der Mount Street, einer der feinsten Adressen der britischen Kapitale. Zwischen Läden von Marni und Christian Louboutin stehen die Tische des traditionsreichen Fischrestaurants „Scott‘s“, Mailands edle Pasticceria Marchesi hat hier einen Ableger, und oben am Carlos Place empfängt das ultraluxuriöse Hotel The Connaught seine Gäste. Im „The Audley“ trifft sich die Geschäftswelt der Umgebung, dazu kommt, wer sonst noch Lust auf ein gepflegtes Pub-Ambiente hat. Hinter dem langen Holztresen herrscht jeden Abend Hochbetrieb; das durchweg junge Personal leistet Akkordarbeit und behält dabei die Ruhe, die gute Laune und den Überblick. Tätowierte Arme reichen Gläser mit Hells Lager aus Camden, Fuller’s London Pride aus Chiswick oder Pumphouse Pale Ale aus der Sambrook’s-Brauerei im Süden der Themse über den Tresen, dazu können klassische Pub-Snacks wie Cockle Popcorn (knusprig frittierte Herzmuscheln), herzhafter Beef and Ale Pie, Fish & Chips oder St. Gallen Sausage bestellt werden. Schweizer Bratwurst? In London? Der Barkeeper lacht. „Die Pub-Besitzer sind aus Sankt Gallen. Offenbar ist das eine Spezialität aus ihrer Gegend“, vermutet er. In der Tat. „The Audley“ gehört den Schweizern Manuela Hauser und Iwan Wirth, die zu den wichtigsten und einflussreichsten Kunsthändlern der Welt zählen.
Das Paar hat jede Menge prominenter Künstler unter Vertrag, darunter Pipilotti Rist und Annie Leibovitz, Subodh Gupta und Cindy Sherman, Isa Genzken und Mark Bradford.
Bei einschlägigen Kunstrankings spielt Hauser&Wirth stets ganz vorn mit, ihr Handel ist mit rund 15 Galerien zwischen Hongkong, Zürich und Los Angeles präsent, demnächst werden neue Ausstellungshallen in London und Paris eröffnet. Parallel zu ihrem weltumspannenden Kunstimperium wächst das Portfolio von Artfarm. Das Hospitality-Business des umtriebigen Duos will Kunstwerke in einem entspannten, dynamischen und spannenden Freizeitrahmen präsentieren.
„Mit unseren Restaurants und Hotelprojekten feiern wir Kunst, Natur, Architektur und Essen als wesentliche Elemente des Lebens“, erklärt Iwan Wirth. Wie das geht, zeigt auch das von Artfarm übernommene und im vergangenen Herbst nach einer umfangreichen Renovierung neu eröffnete „The Audley“. Auf den ersten Blick wirkt es wie ein ganz normales Pub – doch wer genau hinschaut, entdeckt neben handpolierten Holzvertäfelungen, grünen Leder-Banketten und original erhaltenen antiken Handbierpumpen Martin Creeds sonnengelben Neonschriftzug „Friends“ über der Bar leuchten oder Rodney Grahams Gemälde „A Glass of Beer“ an einer der Wände. Als Highlight gilt die kaleidoskopisch bunte Deckencollage, die die britische Künstlerin Phyllida Barlow vor Ort zugeschnitten und angebracht hat. Einen Stock höher zeigt das schicke „Mount Street Restaurant“ noch mehr großartige Kunst. Man betritt es über das begehbare Werk „Broken Floor“ des Amerikaners Rashid Johnson – eine Art Fußboden-Gemälde aus bunten Marmor-Bruchstücken. An den Wänden sind unter anderem Andy Warhols „Lobster“, Lucian Freuds „A Plate of Prawns“ und Henri Matisses „Éperlans“ zu sehen, die Tischlampen erinnern an die Puderdose von Sophie Taeuber-Arp, die Salz- und Pfefferstreuer an den Tannenbaum von Paul McCarthy.
Dazu kommen urbritische Köstlichkeiten aus der Küche: geräucherter Aal mit Kartoffelsalat und Kaviar, gebratene Dover-Seezunge und eine fantastische Lemon Tart. In den Etagen über dem Restaurant wurden vier „private dining rooms“ eingerichtet, darunter ein Schweizer Zimmer mit Gemälden von Ferdinand Hodler und ein Spielzimmer mit bunten Deckenlampen, Pokertisch und einem Türmchen mit blutroter Samtbank und einem erotischen Fresko der britischen Künstlerin Anj Smith.
Ihr Mixed-Use-Konzept haben Manuela Hauser und Iwan Wirth mehrfach erprobt: 2016 eröffneten sie in Los Angeles’ dynamischem Downtown Art District einen modernistischen, gut 10.000 Quadratmeter großen Kunst-Campus mit Restaurant, Ateliers und Event-Räumen in einer ehemaligen Getreidemühle, 2019 das mit hochkarätiger Kunst gefüllte Luxushotel The Fife Arms in einer imposanten, 1836 errichteten Poststation in den schottischen Highlands.
Ihre überraschendste (und erfolgreichste) Kunstlandschaft aber dürfte ihr Besitz in der sanften Hügellandschaft der englischen Grafschaft Somerset sein. 2006 kam das Paar auf der Suche nach einem Wochenendhaus nach Bruton, kaufte ein Bauernhaus mitsamt den Feldern drum herum und meldete seine vier Kinder in den örtlichen Schulen an. „Es war in der Preisspanne und in der Entfernung von London, die wir gesucht hatten – und es gefiel uns“, erinnert sich Iwan Wirth. „Dann fiel uns dieses Projekt in den Schoß.“ Mit „diesem Projekt“ ist die unter Denkmalschutz stehende Durslade Farm aus dem 18. Jahrhundert gemeint, deren restaurierte Bauernhäuser heute diverse Galerien, einen Hofladen mit Bioprodukten vom eigenen Hof, ein Restaurant und ein Sechs-Zimmer-Gästehaus beherbergen und die mit Ausstellungen von Bharti Kher, Louise Bourgeois, Martin Creed oder Henry Moore den winzigen Ort Bruton fast über Nacht auf die Weltkarte der Top-Kunstorte katapultierte. „Als wir Hauser&Wirth Somerset eröffneten, konnten wir nicht ahnen, welch überwältigende Resonanz wir erhalten würden“, sagt Manuela Wirth. Seit der ersten Ausstellung im Winter 2014 haben über eine Million Besucher den Ort besucht, deutlich mehr, als die Hauser&Wirth-Galerien in Zürich und London zusammen verzeichnen können.
Ein Somerset-Effekt ist auch auf Menorca zu erwarten. Dort entstand 2021 der jüngste der hybriden Hauser&WirthVeranstaltungsorte, die sowohl kommerzielle Galerien als auch öffentliche Kulturzentren sind. Auf der kleinen Isla del Rey, die sich im Hafenbecken direkt vor der Inselhauptstadt Mahon gegen balearische Brandungen behauptet, haben sie ein verlassenes historisches Militärkrankenhaus inklusive diverser Nebengebäude aus dem 18. Jahrhundert zu einem 1500 Quadratmeter großen Ausstellungszentrum umgebaut. Entstanden sind acht Galerieräume, ein vom niederländischen Designer Piet Oudolf entworfener Landschaftsgarten mit Skulpturen von Louise Bourgeois, Franz West, Eduardo Chillida und Joan Miró sowie ein Galerieshop und das schicke Restaurant „Cantina“, das mit auf lokalen Produkten basierender Fischküche und typisch menorquinischen Gerichten punktet. Das ganzheitliche Konzept beinhaltet zudem ein Bildungsprogramm mit Vorführungen, Vorträgen und Workshops zur zeitgenössischen Kunst, das sich sowohl an die lokale Bevölkerung als auch an Touristen richtet.
„Kunst steht bei uns zwar immer im Mittelpunkt“, erklären Manuela Hauser und Iwan Wirth. „Aber die Erfahrung, die wir bieten, ist auch integrativ und gemeinschaftsorientiert.“ Ihr jüngstes Projekt allerdings gerät entschieden exklusiver: Im vergangenen Sommer kauften die beiden den berühmten Londoner Groucho Club, dessen glamouröse Klientel vorwiegend aus der Londoner Kunst- und Filmszene stammt. Die Räume an der Dean Street in Soho werden derzeit renoviert und sollen noch in diesem Jahr neu eröffnet werden. Zur bereits vorhandenen, hochkarätigen Kunstsammlung mit 150 Werken von Francis Bacon, Damien Hirst oder Tracey Emin dürften noch weitere dazukommen, für den gastronomischen Part wurde Londons Star-Küchenchef Mark Hix verpflichtet, der seit drei Jahrzehnten Club-Mitglied ist. Auch Nick Hurrell, Vorsitzender des Groucho Club, begrüßt Artfarm als perfekten neuen Eigentümer. „Die Mischung aus kulturellem Engagement, künstlerischer Expertise und hervorragender Gastfreundschaft passt perfekt zum besonderen Geist eines Members’ Club“, glaubt er und fügt hinzu: „Unseren 5000 Mitgliedern auf der ganzen Welt kann ich sagen, dass die Zukunft noch nie so rosig ausgesehen hat.“ Sounds good!