Style

Stille Pracht

In Münchens schönster Villa sinnt die Architektin und Produktdesignerin Marie Aigner über die Beherrschung von Geräuschkulissen nach. Hotel- und Restaurantbesitzer sollten ihr zuhören

Text: Michael Hannwacker

Marie Aigner weiß um die Attraktivität abstrakter Formen. Und findet sie, wenn sie Schall schlucken, umso schöner. Foto: Dirk Bader

In den Räumen im Hochparterre des vielleicht eindrucksvollsten Privathauses der vorvergangenen Jahrhundertwende in München herrscht eine eigenartige, an Museumsruhe erinnernde Stille. Der Vergleich scheint nicht unpassend, da jede Menge Kunst, meist in freier Petersburger Hängung, die Wände ziert und aufsehenerregende Designstücke und Skulpturen die großzügigen Räumlichkeiten bevölkern. An Letzteren bemerkt der Besucher bald eine verbindende Handschrift. Es ist die der Hausherrin. Marie Aigner bespielt die um die vorvergangene Jahrhundertwende von Rudolf Diesel (ja: dem Rudolf Diesel) errichtete pompöse Villa, die sie durch geschickte Eingriffe von ihrer Hohenzollernhaften Schwere befreit hat, als hinreißende Bühne für ihre Objekte. Dabei wehte bei Einzug vor knapp sieben Jahren der Muff eines langen Leerstands durch die überhohen Räume, die dunklen Holzvertäfelungen dräuten abzublättern, das Parkett, traktiert vom achtlosen Tritt zahlloser Anwälte, knarzte. Der family speech nennt die Villa noch heute – nach Harry Potters düsterem Schultrakt auf Hogwarts – Gryffindor. Nun dreht sich von der eichenen Kassettendecke der zweistöckigen Halle ein riesiger weißer, spiralförmiger Kandelaber aus in Südkorea hergestelltem Melaminharzschaum, einem alten Kelim wächst ein Bart aus allerfeinster weißer Wolle (Produktionsresten, die Aigner dem piemontesischen Kaschmirhersteller Loro Piana abgeschwatzt hat), vor dunkler Holzvertäfelung ruht die Chaiselongue „Very Last Supper“, deren Kissenrollen-Polster Aigner mit aufwendig gewebten Stoffresten von Hermès bezogen hat, in einer Ecke steht ihr pièce de résistance „Karlchen“, ein in diesem Fall knallgelber Kaktus aus zusammengesteckten Plattenelementen. Die Verbindung von Aufregenden mit dem Nützlichen ist ihr ureigentlicher Zweck. Aigner entwickelt ästhetisch herausfordernde Schall-Absorber als wand- oder deckengebundene Installation. Aber sie holt sie auch in den Raum – als Tische, Regale, Sessel, Stuhl, Bänke und hinreißende Lampen.

In der großen Eingangshalle konfrontiert Marie Aigner Teile ihrer exquisiten Kunstsammlung mit Kreationen aus ihrer „Knockout Collection”, wie etwa die Chaiselongue „Very Last Supper”, deren schallschluckende Kissenrollen die Produktdesignerin mit wertvollen (Rest)Stoffen von Hermès bezogen hat. Foto: Conny Mirbach

Das ist in ihrer Karriere zunächst nicht so angelegt. Aigner ist Mitte der 70er, „sozusagen auf der Durchreise“, in Mallersdorf bei Regensburg geboren, im Engadin aufgewachsen und als Teenager in ein Internat nahe Landshut gekommen. Nach der Schule entscheidet sie sich für die Baukunst, studiert an der École Nationale Superieure d’Architectue de Paris Val-de Seine und legt an der Technischen Universität München ihr Diplom ab. Anschließend geht sie nach New York und arbeitet zunächst im Büro des Pritzker-Preisträgers Richard Meier an der 10th Avenue, bevor sie zu den Skyscraper-Königen Skidmore, Owings & Merrill wechselt. Dort inhaliert sie die Bedeutung von Corporate Architecture, also die Angleichung an Vorstellungen finanzkräftiger Bauherren. Im Grunde, findet sie heute, „ging es schon damals um Produktdesign“. Ende der 90er kehrt Aigner nach Europa zurück; ihre Laufbahn als Architektin scheint vorgezeichnet. Sie eröffnet ein Büro in Zürich und gewinnt Aufträge. Auf ihrer Website aigner-architecture.com findet man Interieurs – für ein Münchner Brillengeschäft zum Beispiel, Hotelsuiten, Verwaltungsgebäude, Bars oder Penthäuser, die trotz ihrer fast kühlen Klarlinigkeit eine ganz eigene Dekorativität besitzen.

Metier-Wechsel

Dann, in den späteren Nullerjahren, soll Aigner für einen großen süddeutschen Schallschutzplaner das Produktions-und Verwaltungsgebäude entwerfen. Als der Auftraggeber sich auch einen Showroom wünscht, reduziert sie ihn nicht auf vier Wände, sondern weitet ihn aus auf das ganze Gebäude. Sie bespielt Büros, Kantine, Besprechungszimmer statt mit den herkömmlichen grauen Akustikplatten mit dreidimensionalen Wandreliefs und wie schwebenden Deckeninstallationen, die auch auf die Segelleidenschaft des Firmeninhabers anspielen. Der ist begeistert. Und motiviert Marie Aigners Hinwendung zum Produktdesign, mit dem sich etwa auch akustisch problematische Hotelhallen, Restaurants oder Konferenzräume raumklimatisch beherrschen lassen.
Aber muss man nicht einiges von Physik im Allgemeinen und den Eigenschaften des Schalls im Besonderen verstehen, um sich der Herausforderung zu stellen, ihm seine freie Ausbreitung einzuschränken? „Es gibt viele trockene Bücher zu dieser Thematik“, weiß Aigner. „Ich habe keines davon gelesen. In Fibeln fand ich alles, was ich wissen musste.“ Diese Leichtigkeit, das Vertrauen in die Validität ihres eigenen künstlerischen Ausdrucks, führt zu einer atemberaubenden Werkgruppe aus eingefärbten, schallschluckenden PET-Platten, die ihren Namen dem ersten Objekt der Serie in Form eines Boxsacks verdankt: die „Knockout Collection“.
Eine Kunstkritikerin verglich sie mit Objekten von Ettore Sottsass oder Alessandro Mendini. Tatsächlich bewundert Marie Aigner die kongenialen Köpfe der postmodernen Mailänder Designbewegung Memphis. Wie überhaupt die Innovationsfähigkeit und Grenzen sprengende Kreativität der italienischen Nachkriegszeit. „Aber es gibt für mich nicht den einen entscheidenden Einfluss“, sagt Aigner. „Ich verwerte alles, was ich sehe.“ Zuletzt hat ihre „Knockout Collection“ auf dem Salone del Mobile in Mailand, der wichtigsten aller Designmessen, in der Kategorie „Art and Collectible Design“ den von der renommierten Galleria Rossana Orlandi ausgelobten „Ro Plastic Prize“ bekommen. Zwei ausgewählte Stücke der ausgezeichneten Serie sind bis Ende November auch auf Architekturbiennale 2023 zu Gast, mit einer Installation im Palazzo Bembo am Canal Grande südwestlich der Rialtobrücke. Der Kreis der Menschen, die mit ihren Objekten Bekanntschaft machen, wird also zwangsläufig größer und internationaler. Und Marie Aigners Beitrag zum nachhaltigen Produktdesign zunehmend unübersehbar.

aigner-architecture.com

Weitere Artikel