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Besuch der alten Dame

Wilde Partys, exzentrische Besucher und Auswüchse jeder Art – New Yorks libertinärste Herberge kannte weder Regeln noch falsche Moral. Jetzt sind wieder Gäste im New Yorker Chelsea Hotel

Text: Charlotte Mann

Für Patti Smith, die vor gut 50 Jahren mit ihrem Freund Robert Mapplethorpe hier lebte, war das Chelsea Hotel „wie ein Puppenhaus in der Twilight Zone, mit Hunderten von Zimmern, von denen jedes ein eigenes kleines Universum barg”

Susanne Bartsch erinnert sich noch gut an ihren Einzug: „Es war Valentinstag, 1981. Ich betrat das imposante Gebäude und dachte: wow, was für ein cooler Ort.“ Sie kam aus London, im Schlepptau ihres damaligen Lovers. „Damals lebten hier Musiker, Maler, Designer, Schriftsteller. Alles war etwas schäbig und abgewetzt, aber sauber, freundlich und gemütlich. Ich habe mich sofort wohlgefühlt.“ Der Freund zog aus, die gebürtige Schweizerin blieb.
Sie wurde Designerin, Autorin, Kuratorin, Showgirl und New Yorks berühmteste Partyveranstalterin – ein Kunstwesen, das mit Paradiesvogel-Outfits und hausgemachtem Pflaumenkuchen glänzte. Nach und nach mietete sie zwei weitere Studios im Chelsea Hotel und residiert heute in einer labyrinthischen Eckwohnung mit Balkon und Blick auf den Hudson River und die Spitze des Empire State Building.
Zusammen mit anderen Langzeitmietern hat sie die über zehnjährige Totalrenovierung des denkmalgeschützten Gebäudes überstanden. „Lustig war das nicht, aber ausziehen wollte ich auf keinen Fall“, sagt sie. „Ich habe die mit Abstand beste Adresse Manhattans.“

Das Chelsea Hotel eröffnete 1884 an New Yorks 23. Straße als Apartmenthaus. Mit seinen zwölf Etagen dominierte es ein paar Jahre lang die Skyline der Stadt, die rote Backsteinfassade und gusseisernen Balkone sicherten den Status als Landmark. Es gab schalldichte Wände, damit Musiker und Schriftsteller ungestört arbeiten konnten, einen kunstvoll angelegten Dachgarten für Sternenbeobachtung und Tanzaufführungen, exquisite Glasmalereien und ein spektakuläres zentrales Treppenhaus mit Oberlicht. Damals war der Stadtteil Chelsea das Epizentrum der New Yorker Theaterszene und Treffpunkt der Schickeria.
Dann verschob sich der Theater District nach Norden, Chelsea blieb irgendwie auf der Strecke und mit dem Viertel auch das Apartmenthaus. 1905 ging es Konkurs und wurde in ein 250-Zimmer-Hotel/Wohnhaus verwandelt. Je nach Gästebudget gab es eine winzige Kammer ohne eigenes Bad oder eine großzügige Suite mit poliertem Holzboden und Kamin. Obwohl er es wirklich nicht nötig hatte, führte der exzentrische Hauptanteilseigner Stanley Bard das Hotel über 50 Jahre lang höchstpersönlich. Menschen, die er mochte, bekamen Rabatt oder wohnten umsonst, er nahm Kunstwerke in Zahlung und sah großzügig darüber hinweg, wenn seine Gäste weitere Gäste mitbrachten.
Bald logierte das Who’s who der Künstlerszene im Chelsea, von Schriftstellern wie Mark Twain, Jack Kerouac oder William S. Burroughs über Schauspieler wie Humphrey Bogart und Isabella Rossellini oder Künstler wie Yves Klein, Niki de Saint Phalle und Christo bis zu Musikern wie Jimi Hendrix, Joni Mitchell oder Patti Smith.

Janis Joplin im Chelsea Hotel New York City
Janis Joplin an der Rezeption des Chelsea Foto: The Estate of David Gahr /Getty images

Die Aufarbeitung ihrer Erlebnisse machte das Hotel noch berühmter. Andy Warhol drehte hier den Film „Chelsea Girls“, Ethan Hawke „Chelsea Walls“. Arthur Miller zog nach seiner Trennung von Marilyn Monroe in Suite Nr. 614, schrieb dort mehrere Theaterstücke und den Essay „The Chelsea Affect“. Darin brachte er das Ambiente des Ortes so genau wie gnadenlos auf den Punkt: „Dieses Hotel gehört nicht zu Amerika. Es gibt keine Staubsauger, keine Regeln, keine Scham.“ Er schrieb aber auch: „Das Chelsea vermittelt das Gefühl einer großen, altmodischen, beschützenden Familie“ – der er selber rund sechs Jahre lang angehörte. In Zimmer 211 komponierte Bob Dylan sein Album „Blonde on Blonde“, in Zimmer 424 lebte ein noch völlig unbekannter Leonard Cohen seine kurze Liaison mit Janis Joplin aus, die er im Fahrstuhl getroffen hatte und im Song „Chelsea Hotel #2“ verewigte. Von Leonard Cohen stammt auch diese interessante Bemerkung: „Ich liebe Hotels, in die man nachts um vier Uhr einen Zwerg, einen Bären und vier Damen mit auf sein Zimmer nehmen kann, ohne dass sich jemand darum schert.“

Diese Zeiten sind vorbei. Leider, sagen viele, vor allem jene, die das Chelsea lange kennen. Der viel zu freundliche und grenzenlos tolerante Stanley Bard hatte offenbar über zu viele Zwerge, Bären und Damen hinweggesehen. In den 1970er-Jahren streiften Dealer durch die Gänge, Junkies besetzten die Toiletten, Punkbands zogen ein. Graffitis bedeckten die Wände, Buntglasscheiben verschwanden, was kaputtging, blieb kaputt. 2007 hatten die anderen Anteilseigner genug: Sie zwangen die Bards, „New Yorks most illustrious third-rate hotel“ („Life Magazine“) zu verkaufen. Wieder gibt es ein Hin und Her. 2016 endlich übernehmen die erfolgsverwöhnten New Yorker Hoteliers Sean MacPherson, Richard Born und Ira Drukier. Es wird eine der längsten und umstrittensten Renovierungsarbeiten der Stadt, die unzählige Gerichtsverfahren, einen Baustopp und eine Pandemie übersteht.

Tatsächlich ist die Lobby mit Kunstwerken von ehemaligen und aktuellen Bewohnern geschmückt, in den Fluren hängen Fotografien von Menschen, die hier leben und arbeiten. Erhalten blieben viele alte Kamine, Glasmalereien, Mosaikböden und holzvertäfelte Wände. Nach wie vor gibt es sehr kleine und sehr große Zimmer sowie Suiten und Apartments mit zwei Schlafzimmern und top ausgestatteten Küchen. „Wir bieten bewusst verschieden bemessene Räume an“, erklärt Sean MacPherson, „wir hoffen, dass sich dadurch die für das Chelsea typische Gästemischung wieder einfindet, also Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensläufen.“ Die neuen Inhaber sind auch den alten Mietern entgegengekommen, niemand wurde zum Auszug gedrängt. „Wir haben kein Interesse daran, die früheren Bewohner zu vertreiben“, sagt Ian Drukier, „ganz im Gegenteil. Sie halten den besonderen Charakter und Charme dieses Ortes am Leben, unsere Hotelgäste finden das cool.“
Cool sind auch der lässige Vintage-Look der Einrichtung, der Retro-Stil der Marmorbäder und das wiedereröffnete opulent dekorierte spanische Restaurant „El Quijote“, in dem schon Patti Smith und Robert Mapplethorpe gebratene Hummerschwänze verspeisten. In diesem Jahr sollen noch ein franko-amerikanisches Bistro dazukommen und ein Lokal mit japanischer Küche. „Wir haben jetzt sogar Room Service“, freut sich Susanne Bartsch, die davon regen Gebrauch macht, „und eine fantastische neue Cocktailbar, I love it.“ Wenn sie abends in einem ihrer unglaublichen Stylings durch die Lobby stolziert, hier und dort Bekannte begrüßt und schließlich in die New Yorker Nacht entschwindet, folgen ihr sämtliche Blicke. In diesen Momenten ist das Chelsea wieder so schräg, exzentrisch und einzigartig wie früher – nur weniger chaotisch und deutlich komfortabler.


DZ ab 295 Dollar, 222 W 23rd St, New York, T. +1.212.483 10 10, hotelchelsea.com

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